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Charly Steiger
Er rief an – in memoriam Gerald Hintze

Er rief an, einige Wochen vor meiner Ausstellung, projektiert und kuratiert noch von seinem Vorgänger.
Er sei der Neue und ob ich Interesse hätte, mich mit ihm zu treffen? Er würde gerne mehr über meine Arbeiten erfahren, möchte mich kennenlernen.
Wir verabredeten uns für einen der nächsten Tage, gegen Mittag. Als der Wintertag in abendliche Dunkelheit überging, verließ ich sein Büro, das begonnene Gespräch haben wir über viele Jahre hinweg fortgesetzt, wiederaufgenommen, gepflegt. Manchmal in kurzen, häufiger in größeren Abständen, aber stets mit aufrichtigem Interesse, mit Engagement und mit überraschenden Wendungen.
Auf seine Frage nach einem Rahmenprogramm für meine Ausstellung, schlug ich ihm vor, zu Lesungen und Vorträgen einzuladen, die den Kontext der gezeigten Arbeiten reflektieren - eine Idee, die Gerald Hintze über diese Ausstellung hinaus regelmäßig aufgriff und in ein spannendes Programm über aktuelle Kunst verwandelte.
Noch heute liegen einige der Postkarten, die mich hin und wieder erreichten, in meinem Atelier, mit einer Anmerkung zu einem Aspekt unseres letzten Gespräches oder einer Anregung für das kommende, persönlich, freundlich und inspirierend. Später sollte er einen Text zu einem meiner Kataloge beisteuern. Kenntnissreich und pointiert.
Als Gerald den Kunstraum im Dominikanerkloster gegen den Sozialraum in der Gutleutstraße tauschte, verschickte er ein Resumée seiner letzten Jahre an Freunde und Interessierte. Mein Exemplar begleitete ein Schreiben mit den für Gerald so typischen herzlichen Worten, die die Fäden der Verbundenheit zu einem farbigen Band verflochten und zeigten, wer Gerald ist: Ein großherziger und weltoffener Mensch, der Vergnügen an Differenzierungen hat.
Über den Räumen in der Gutleutstraße installierte Mirek Macke riesige, von einer Kaufhaus-Abwicklung übernommene Buchstaben - der Schriftzug "MENSCH" war nicht nur Programm, es war Geralds Leitmotiv seiner Arbeit, seines Lebens - ganz gleich, welchem Bereich er sich zuwandte.
Die Pausen zwischen unseren Treffen wurden länger, ich war nicht mehr so präsent in Frankfurt und Gerald - wie zu erwarten - engagiert. Es dauerte, bis ich von seinem schweren Unfall erfuhr.
Unser letztes Treffen war Wochen, vielleicht Monate nach seinem Tod. Gerald radelte durch Frankfurter Straßenzüge im Abendlicht, fuhr direkt auf mich zu, die Mütze überschattete sein Gesicht, der ganze Mensch schon fast ein Schattenriss und dennoch - er wars, unverkennbar. Ein letzter Gruß, ein letztes Zusammenfinden, eine Wiederaufnahme früherer Nähe, die sich auf der Trauerfeier für mich nicht einstellen wollte. Jetzt, sonntags morgens, verabschiedete sich Gerald im filmischen Zusammenschnitt des Vorspanns einer Kultursendung mit einem freundlichen Winken von mir und war sogleich wieder aus dem Bild gefahren - bevor ich so recht verstanden hatte -, eine für mich so viel passendere Erinnerung hinterlassend als Krankenhausbett und Jugendstilkapelle und dunkle Erde auf hartem Holz.
Danke, Gerald, für alles.

Differenzen, 1992, Dominikanerkloster, Abb. Courtesy Charly Steiger